Bericht eines Papas:
Als unsere Tochter Helena vier Jahre alt war, kam unser Sohn Luis auf die Welt. (Zumindest dachten wir damals, dass es ein Sohn wäre).
Die ersten anderthalb Jahre waren aus unserer Sicht unauffällig. Irgendwann gab es jeden Tag ein Ritual: morgens, beim Frühstück wurden Rollen verteilt. Jedem Familienmitglied wurde ein neuer Name und eine neue Rolle zugeordnet, was sich in der Regel den ganzen Vormittag über hielt. Luis war dabei immer ein Mädchen, es sei denn er war „Immer wieder kommt ein neuer Frühling“. Das ist ein Lied und Musikvideo von Rolf Zuckowski und
den gesamten Liedtitel suchte sich Luis als Namens aus Manchmal wollte er auch einen noch längeren Namen, der dann über zwanzig oder mehr Worten bestand, das haben wir dann aber kategorisch abgelehnt. Diese Phase mit den neuen Namen am Frühstück dauerte ungefähr anderthalb bis zwei Jahre. In der Zeit war er nur genau zwei Mal ein Junge. Das war derart auffällig, dass es meiner Frau und mir sofort auffiel.
Immer wieder fragte Luis: „Wann werd ich ein Mädchen?“, „Wann wächst mir eine Scheide?“, usw. Wir anderen lächelten nur und antworteten: „Dir wächst keine Scheide. Du bist ein Junge und wenn du groß bist, wirst du ein Mann, wie Papa.“ Die Fragen kamen immer wieder, immer wieder, monatelang.
Anfangs schenkt man solchen Sachen wie „Wann werd ich ein Mädchen“… keine sonderliche Bedeutung. Schließlich hatte Luis ja eine große Schwester, er hatte eine recht enge Bindung zu seiner Mutter, … alles normal. Als Luis den dritten Geburtstag hinter sich hatte und diese Fragen immer noch kamen, wurde es befremdlich. Wir konnten das Ganze nicht einordnen und machten uns deswegen auch keine wirklichen Sorgen, aber es war auffällig.
Auch seine Vorliebe (von klein auf) für Kettchen und Armbänder, alles was irgendwie glitzerte, beachteten wir nicht weiter. Wir schoben alles darauf, dass er eine große Schwester hatte. Er liebte zwar pink und rosa und Glitzer, aber er akzeptierte es auch, dass er hauptsächlich Klamotten in blau und grün oder anderen Farben hatte bzw. trug.
In KiTa und Kindergarten spielte er hauptsächlich mit Mädchen. Er hatte definitiv auch Jungs als Freunde, aber drei Viertel waren Mädchen. Das war damals für uns nicht sonderlich auffällig. Eher auffällig war das Spielen daheim mit seiner Schwester Helena und den Nachbarskindern. Es gab die Mädchengruppe und die Jungengruppe. Luis war ausnahmslos immer bei der Mädchengruppe dabei. Besonders lustig fanden meine Frau und ich, wenn Luis zusammen mit den Mädchen zum Gartentor hereinstürmte und aufgeregt rief: „Die Jungs kommen!“, um sich dann zusammen mit dem Rest der Mädchengruppe irgendwo vor den gefährlichen Jungs zu verbarrikadieren. Ab und zu mussten wir schmunzeln und sagten ihm: „Ähm… Luis… was heißt `die Jungs kommen?´. `Du bist ein Junge´“. Es kam nie eine Antwort von ihm.
Vermutlich gab es noch ein paar Besonderheiten, die wir aber vergessen haben.
So richtig befremdlich wurde es, als sich die Fragen von: „Wann werde ich ein Mädchen?“ wandelten zu: „Muss ich sterben, um dann wieder als Mädchen auf die Welt zu kommen?“. Ich erinnere mich noch, als Luis die Frage zum ersten Mal stellte, fanden meine Frau und ich das total witzig. Wir sahen uns an und dachten: „Woher hat denn das Kind diese Reinkarnationstheorie?“ Als die Frage zum zwanzigsten Mal kam, fanden wir´s nicht mehr witzig. Es macht bis heute noch ein bisschen Angst. Die Fragen wurden immer detaillierter und konkreter: „Wenn ich dann sterbe, komme ich dann wieder in Mamas Bauch?“ „Bin ich dann ein Mädchen oder komme ich vielleicht wieder als Junge auf die Welt?“ „Kommt Uropa auch wieder als Baby auf die Welt?“ Es gibt einfach bis heute solche Selbstverständlichkeiten rund um´s Thema Sterben mit dem Thema Wiedergeburt. Der Gedanke ans Sterben ist für dieses Kind bis heute überhaupt nicht schlimm. Schließlich kommt es dann als Mädchen wieder auf die Welt. Das macht richtig Angst. Wir wissen bis heute nicht, wie Luis auf diese Reinkarnationstheorie kommt. Weder meine Frau noch ich haben jemals mit einem unserer Kinder über so etwas Ähnliches gesprochen.
Auf jeden Fall wurde es mit Luis immer seltsamer.
Eines Tages, da war Luis ungefähr dreieinhalb Jahre als, betonte Luis:
„Mama, ich spiele kein Mädchen, ich bin ein Mädchen!“ (Aus heutiger Sicht ein wirklich klassiches Klischee.) Das war wie eine Begegnung der dritten Art. Wir konnten das überhaupt nicht einordnen.
In der gleichen Woche kam ich abends spät von der Arbeit heim, da sagte meine Frau, ihr wäre plötzlich klar geworden, dass Luis trans sein könnte. Sie habe sich daraufhin informiert und es würde alles auf Luis zutreffen. Das war der Abend als meine Welt zusammenbrach.
Alles in mir schrie: „Nein!“, aber es passte einfach zu gut. Wir schauten uns mehrere Dokumentationen über „trans“ an, lasen uns im Internet in das Thema ein. So sehr es auch schmerzte, es passte einfach alles auf Luis.
Meine Frau fand im Internet eine Art „Trans-Test“. Da hieß es, wenn vier der fünf Punkte einträfen, sei von einem trans Kind auszugehen. Auf Luis trafen fünf von fünf Punkten zu. (Heute finden wir diesen Test nicht wirklich hilfreich, damals war er eine wirklich unglaublich tolle Stütze.)
Meine Frau und ich diskutierten abends oft, was zu tun sei. Nach wenigen Wochen beschlossen wir, es einfach mal auszuprobieren. Die Osterferien standen vor der Tür. Am Freitag, also direkt zu Beginn der Osterferien, erlaubten wir Luis anzuziehen, was er wollte und sagten, wir würden ihn so nennen und ansprechen wir er es wollte.
Er wollte Lara genannt werden. Als er die alten Kleider seiner Schwester Helena anziehen durfte, strahlte er in einer Weise, dass es einfach nur weh tat.
Er war nun also Lara und er war eine „sie“.
Lara suchte sich an diesem Freitag nur rosa, rote und pinke Klamotten aus, sie trug Ketten und Armbänder von Helena. Sie sah komisch aus. (Das Wort „lächerlich“ blieb mir im Hals stecken, das konnte/durfte ich nicht denken.)
Ganz in pink und rosa, mit Kleidchen an, an jeder Hand ungefähr fünf Armbändchen lag sie auf dem Rücken im Bad, strahlte unglaublich und sang plötzlich ein spontan erfundenes Lied: „Das kleine Kaninchen wollte ein Mädchen sein. Und es ging nicht, und es ging nicht. Und dann ging´s doch!“.
Mir war zum Heulen zumute. Es drehte mir schier den Magen um. Dieses Bild von Lara im Bad liegend, das Lied hat sich mir so eingebrannt, dass ich es mit Sicherheit nie mehr vergesse. Bis heute noch, schießen mir dabei Tränen in die Augen. Ich kann das Gefühl nur sehr schwer beschreiben. Rückwirkend würde ich es von der Art her, in die Nähe eines Verlustschmerzes einordnen. Einen geliebten Menschen auf der Intensivstation liegen sehen, ohne zu wissen, wie es weitergeht, ist ein ähnliches Gefühl. Oder wenn mir mein Kind sagen würde: „Ich ziehe weit weg, ins Ausland, und komme nie wieder.“ fühlt sich das vermutlich ähnlich an. Gleichzeitig hatte das Gefühl auch etwas von „Was habe ich diesem Kind bisher angetan?“. Es ist ein heftiger Schmerz.
Es waren ja Ferien und Lara lief nur im Haus und in der Nachbarschaft herum. Die Nachbarn dachten sich sicherlich nichts dabei, wenn ein dreijähriger „Junge“ ein paar Tage in Mädchenklamotten herumlief, die engeren Verwandten und Freunde waren eingeweiht, wir fanden die Situation gesellschaftlich vertretbar (klingt aus heutiger Sicht vielleicht komisch, es sind aber natürlich Überlegungen, die einem durch den Kopf gehen).
Manche Bekannte/Freunde fanden es gut, andere wiederum waren skeptisch. Mit wirklich jedem muss man reden, die Situation erklären, sich rechtfertigen. Es ist ermüdend. Der vorher angesprochene „Trans-Test“ half bei der Rechtfertigung.
Meine eigene, persönliche Ansicht war: „Wenn dieser Junge vielleicht doch nicht trans ist, sondern einfach ein Bedürfnis nach irgendeiner Form von weiblichem Erscheinungsbild hat, dann überhäufen wir ihn damit, bis zum Erbrechen. Vielleicht kann das Bedürfnis dann wieder abklingen und alles wird wieder `normal´. Wenn es doch dauerhaft ist, Luis also wirklich trans ist, dann schadet der Rollenwechsel ins Weibliche ja auch nicht“. Es gab somit nichts zu verlieren, die Hoffnung lebte aber, dass alles nur eine vorübergehende Phase, ein böser Traum war, aus dem wir vielleicht wieder erwachen konnten.
Es verging ein Tag nach dem anderen, die Phase ging nicht vorüber.
Das Verhalten von Lara änderte sich nicht. Sie lief derart schlimm in rosa und pink rum, dass ich dachte, ich krieg demnächst Augenkrebs.
Unsere Verwandten und engen Freunde stärkten uns alle(!) ausnahmlos den Rücken. Manche waren skeptisch und fragten viel nach, aber am Ende des Gesprächs unterstützten alle unsere Entscheidung. Sogar die, die wir eher als „konservativ“ einschätzten.
Einzig meine Mutter, weit über 80 Jahre alt, haderte mit der Situation und schüttelte wortlos, unter Tränen, den Kopf.
Sie sprach Lara weiterhin mit Luis an. Ich sprach öfter mit ihr, ging taktisch vor. Ich begründete mit meinem eigenen Argument, dass Luis/Lara vielleicht einfach nur eine Phase hat, in welcher sie das dringende Bedürfnis verspürt, in irgendeiner Form Weiblichkeit „auszuleben“. Dass ich ihn/sie damit überhäufen möchte, bis sie es zu Kotzen findet… und wenn die Phase eben nicht abklingen würde, dass es dann wohl so sein muss.
Wir saßen uns oft mit Tränen in den Augen gegenüber. Ich sagte ihr auch, dass das Kind (egal ob Luis oder Lara) einfach vielleicht ein Gefühl bzw. ein Einfühlungsvermögen in das Weibliche hat, wie es „normale“ Männer vielleicht nicht haben und er/sie nun einfach nicht weiß wohin damit.
Ungefähr einen Monat nachdem Luis zu Lara wurde() besuchte uns meine Mutter mal wieder (sie kommt fast jeden Tag für ein paar Minuten vorbei). Beim Gehen riefen die Kinder: „Tschüss Omi!“. Omi antwortete: „Tschüss Helena, Tschüss – [Pause] – Lara!“
Lara sagte nichts. Als meine Mutter um die Ecke war sagte Lara leise: „Sie hat ES gesagt!“ und das ganze mit einem Strahlen im Gesicht, dass es weh tat.
Die Osterferien endeten, meine Frau und ich mussten entscheiden, was wir mit Lara im Kindergarten machen sollten.
Unser Problem war: Annahme, wir würden Lara wieder Jungsklamotten im Kindergarten anziehen, wie sollten wir ihr dann vermitteln, dass wir sie ernst nehmen würden. Es hätte die Akzeptanz, sie als Mädchen zu betrachten, zum Witz degradiert. Natürlich hatten wir Angst, uns lächerlich zu machen.
Der Gedanke, dass Lara in ein paar Wochen oder Monaten wieder Luis sein wollte und wir Eltern wie die Deppen da ständen, war kein schöner Gedanke.
Trotzdem. Lara war so glücklich in ihrem Mädchen-Dasein, dass wir es nicht über´s Herz brachten, sie wieder in ein Jungs-Outfit zu stecken.
Im Kindergarten gab´s verständlicher Weise eine kleine Aufregung, schließlich hatte noch keine der Erzieherinnen mit dem Thema trans zu tun gehabt. Niemand rief gleich „Hurra, darauf haben wir immer schon gewartet!“, wir hatten den Eindruck, dass alle recht vorsichtig mit dem Thema umgingen, aber das war für uns in Ordnung. Nach ein paar Tagen beschlossen wir, an alle Eltern der KiTa einen Elternbrief zu schreiben, denn die würden im Laufe der Zeit die äußerlichen Veränderung von Luis sowieso merken, da wollten wir lieber blöden Sprüchen vorausgreifen.
Es dauerte dann letztendlich doch noch fast vier Wochen, bis wir den Brief rausschickten, mit vielen Eltern hatten wir da schon über das Thema persönlich gesprochen, aber einige wussten es auch noch nicht. Ungefähr die Hälfte der Eltern sprachen uns im Laufe der darauf folgenden Woche an und sagten, dass sie das total klasse fänden (das tat echt gut). Ein weiteres Viertel sprach uns im Laufe der nächsten zwei, drei Monate an und machten klar, dass sie das gut fanden. Es war offensichtlich, dass es für viele Eltern einfach kein brennendes Thema war. Sie fanden es gut, aber nicht so wichtig, dass sie uns jetzt dafür ansprechen wollten. Es war vielen einfach egal, so als wenn wir dem Kind eine andere Frisur verpasst hätten. Auch das tat sehr gut. Von dem letzten Viertel der Eltern haben wir nie eine Rückmeldung erhalten. Manche fanden es vielleicht doof, haben das aber nie kommuniziert.
Manche Personen standen dem Thema „trans“ eher skeptisch gegenüber.
Ein Nachbar meiner Mutter, ein Psychologe, verstärkte in den ersten Tagen ihre Trans-Skepsis durch sinnlos Sprüche.
Unser Kinderarzt erzählte meiner Frau, dass ja bekannt sei, dass so etwas genetisch vererbt sei. Ob denn ihr Mann (also ich) auch gerne in Frauenkleidern rumlaufe. Er sagte es wohl sehr vorsichtig, aber trotzdem. Meine Frau erwiderte, dass ich wohl der am männlichst denkende Mensch bin, den sie kennt und dass ich in jedes männliche Vorurteil reinpasse.
Für den Kinderarzt war es danach kein Thema mehr, für uns aber schon. Heute reißen wir oft Witze drüber.
Den Nachbarskindern erläuterten wir die Situation mit Luis-Lara. Die nahmen es so hin. Bei den Mädchen gab es nie Probleme. Bei den Jungs nahm der Verständnisprozess etwas mehr Zeit und mehr Ressourcen in Anspruch. Helena kam öfter vom Spielen und sagte, die Jungs würden Lara ärgern, ihr dauernd sagen, sie wäre ein Junge und hieße Luis. Das passierte ein paar Mal, ich ging jedes Mal hin und machte eine klare Ansage: „Luis ist eigentlich ein Mädchen und heißt Lara. Ich will nicht mehr, dass ihr sie Luis nennt, klar?“
Es gibt in der Nachbarschaft ein „Arschlochkind“, Andreas, den wir hauptsächlich verdächtigten, Lara zu ärgern. Irgendwann mal merkten wir, dass nicht jedes Mal, wenn Andreas dabei war, Lara geärgert wurde, aber jedes Mal wenn ein anderer, eigentlich netter Nachbarsjunge dabei war. Das hieß, das gar nicht Andreas sie ärgerte, sondern dieser „nette Nachbarsjunge“.
Ich hatte das dringende Bedürfnis, diesen „netten Nachbarsjungen“ erst grün und blau zu schlagen und dann Kopf voraus in die Biotonne zu stopfen. Kannste aber nicht machen. Also setzte ich mich mit ihm auf ein Mäuerchen in der Straße und erklärte ihm das Ganze noch mal gaanz laangsaam und ausführlich. Ich ging sicherheitshalber auch zu Andreas´ Mutter, erzählte ihr von der Luis-Lara-Geschichte und bat sie, das Ganze Andreas zu erklären. Man muss sich wirklich überwinden, nicht kurz angebunden zu sein, aber es ist sooo anstrengend, jeder und jedem die ganze Geschichte von Neuem zu erklären.
Lara wurde von den Nachbarskinder übrigens nie wieder geärgert!
Helena. Helena kam in dieser Zeit eindeutig zu kurz. Sie ist ein wirklich liebes Mädchen, und kümmert sich um alle Menschen um sie herum. Sie sieht, wenn es einem schlecht geht, sie hat ein Auge dafür. Es zerriss mir manchmal schier das Herz, wenn ich sah, wie sie einfach zurücksteckte, da wir uns kaum Zeit für sie und ihre Probleme nahmen. Ich nahm sie ein paar Mal in den Arm und entschuldigte mich bei ihr, weil wir grad so wenig Zeit für sie hatten und dankte ihr auch für ihr Verhalten und für ihre Unterstützung, auch Lara gegenüber. Was soll ich sagen? Sie kam einige Monate einfach zu kurz. Das Luis-Lara–Problem war absolut dominierend in unserem Familienleben.
Lara klaute Helenas Kettchen und Armreife, ihre Glitzerstifte. Helena weinte, Lara mache alles kaputt (was nicht ganz aus der Luft gegriffen war). Wir rannten in die Läden, um Lara eigenes rosa Zeug zu kaufen, damit sie nicht mehr das von Helena nehmen musste. Uahhh! Schlimme Zeit!
Lara fing ungefähr in der Zeit der Transition auch an, stressiger zu werden. (Wir kriegen es nicht mehr zusammen, ob es bereits vor der Transition los ging oder erst danach.) Es nahm Züge von ADHS an. Zum einen redet sie nur noch einmal am Tag (sie beginnt morgens um 7:30 und hört abends um 19:30 auf), zum anderen fing sie an zu treten, kratzen, schlagen. Vor allem für Helena war das schlimm, weil wir ihr (meist) verboten, zurück zu schlagen und sie sich somit nicht wehren konnte. Lara kann bis heute schlecht mit einem „Nein“ und Frust umgehen. Sie haut immer noch, wobei es im Laufe der vielen Monate laangsaaam eetwaas besser wird.
Also: nur etwas besser.
Natürlich gelang uns der verbale Sprung von Luis zu Lara nicht von Anfang an. Wir haben sie oft, auch nach der Transition, mit Luis angesprochen und von „ihm“ statt „ihr“ gesprochen. Auch da nahmen wir sie oft in den Arm und sagten ihr, dass das für uns etwas schwer sei, sich da um zu gewöhnen, dass wir es oft falsch machten, aber dass wir uns Mühe geben würden und es auch ganz sicher nach und nach schaffen würden. „Du weißt ja, Lara, wie vergesslich Mama und Papa manchmal sind. Wir vergessen das einfach oft.“ Es war für Lara in Ordnung, wenn man sich verplapperte. Wenn sie wusste, dass man vom Prinzip her, ihr Mädchensein akzeptierte, durfte man sich verplappern. Zumindest hatte das für uns immer den Anschein. Meine Mutter brauchte am längsten, bis sie sich das „sie“ statt „er“ angewöhnte. Es war natürlich hilfreich, dass sie auch sonst etwas vergesslich ist, sie verwechselt manchmal auch mich und meinen Bruder. Lara kommentierte das nur lakonisch mit „Omi ist ja auch schon so alt“. Ab dem Tag, als Omi sie im Garten mit „Tschüss Lara“ verabschiedete, durfte Omi sich verplappern.
Die Spiele am Frühstückstisch – dass jeder von uns einen Namen zugeordnet bekam – dass Lara immer ein weibliches Lebewesen war, endeten übrigens komplett ab dem Tag ihrer Transition.
Die Fragen, wann ihr eine Scheide wächst und wann sie nun ein richtiges Mädchen wird, übrigens nicht. Es fällt schwer, ihr da die Wahrheit zu sagen. Sie fragte auch viele Monate danach immer wieder, ob sie Kinder haben könne und solches Zeug. Meine Frau antwortet immer, dass sie schon Kinder haben könne, es sei zwar kompliziert, aber möglich. (Unter Umständen kann sie vielleicht eigene Kinder haben, vielleicht auch adoptieren, wir sprechen das nicht so explizit aus.) Sie weiß auch, dass es später, wenn sie groß ist, auch möglich ist, ihr eine Scheide operieren zu lassen.
Im Alter von ungefähr vier, stellte sie die Frage zum ersten Mal anders. Sie fragte, ob sie Kinder bekommen könne, also zur Welt bringen könne. Meine Frau antwortete vorsichtig, dass das leider nicht möglich sei. Lara: „Aber wieso, ich kann doch später eine Scheide haben?“ Meine Frau erklärte ihr dann, dass da noch mehr nötig sei, was man nicht operieren könne (Gebärmutter, etc..)
Danach war Lara eine Woche lang sehr, sehr still und richtig traurig. Das tat uns Eltern natürlich ebenfalls richtig weh. Man kann das Kind in der Situation einfach nicht trösten.
Die Thematik, dass sie nach dem Sterben wieder als Mädchen auf die Welt kommt, ist immer noch absolut präsent. Das ist für Lara völlig klar, steht ganz außer Frage, dass sie und alle anderen (Uropa, unsere verstorbene Katze, einfach jeder) nach dem Tod wieder als Baby auf die Welt kommt. Wir leben damit und haben es mehr oder weniger als Teil unserer Familienphilosophie eingegliedert.
Nach der Transition hat Lara um mich, als Papa, übrigens einen richtigen Bogen gemacht. Ich konnte sie kaum noch in den Arm nehmen, auch über den Kopf streichen und dergleichen ging nicht. Ihr den Popo am Klo abputzen schon gar nicht. Jetzt, ungefähr anderthalb Jahre nach der Transition, habe ich den Eindruck, dass ich wieder einen Draht zu ihr finde. Das tut echt gut.
Überhaupt geht es uns allen besser. Es sind jetzt ziemlich genau anderthalb Jahre seit der Transition vergangen. Lara ist entspannter. Sie trägt auch manchmal andere Farben als rosa und pink. Sie wirkt äußerlich komplett wie andere Mädchen auch. Sowohl die Kleidung, als auch vom Erscheinungsbild her. Natürlich hat sich auch die Situation mit Helena komplett entspannt, wir haben wieder Zeit für sie und ihre Themen.
Bei Lara bricht die Problematik manchmal, alle paar Monate, wieder auf. Wahrscheinlich sind das Erkenntnisprozesse, die sie in ihrer kindlichen Entwicklung durchmacht und dann merkt, dass manches schwieriger ist als bei „normalen“ Mädchen. Ich habe zwei oder drei Mal, als ich den Eindruck hatte es wäre angebracht, Lara in den Arm genommen und ihr gesagt, dass ich genau so wie ich manchmal mit ihr streng bin und mit ihr schimpfe, auch mit aller Kraft dafür sorge, dass sie niemand ärgert (auch wegen dem trans Sein) und auf sie aufpassen werde. Sogar, wenn ich stinkesauer auf sie bin, würde ich, wenn sie sich weh tut oder sie von jemandem geärgert werden würde, ihr sofort helfen und es wäre mir absolut egal, was sie vorher angestellt hätte. Auf diesen Punkt kam sie interessanter Weise immer wieder zurück. Sie hat oft gefragt, ob ich – auch wenn ich auf sie sauer wäre – sie lieb hätte und sie trösten würde, wenn sie sich weh tut. Und ob es mir dann egal wäre, ob sie etwas „Blödes“ getan hätte. Ich habe nie mit etwas anderem als einem ehrlichen „Ja“ geantwortet. Und ob ich ihr immer helfe, wenn sie jemand anderer ärgern würde und ob ich dann den anderen auch hauen würde? Auch da habe ich ihr immer so was Ähnliches geantwortet wie: „Ja, wenn die jemand ärgert oder blöd zu dir ist, werde ich dir immer mit aller Kraft helfen. So lange, bis ich so alt wie Omi bin und nicht mehr laufen kann“. Das findet sie immer witzig, aber sie fragt auch immer wieder nach. Inzwischen seltener, aber sie versichert sich immer wieder meiner Unterstützung.
Natürlich werden wir Lara immer unterstützen. Sogar, wenn sie den ganzen Tag lang – gefühlt: tausend Worte pro Minute – einem das Ohr blutig quasselt.
Anfangs nach der Transition war unsere Angst so groß, wir fürchteten dass Lara gemobbt werden könnte, im Kindergarten, in der Schule, später als Jugendliche. Man macht sich Sorgen, wie das wohl mit Freunden sein wird, mit partnerschaftlichen Beziehungen, es gehen einem so viele Gedanken durch den Kopf, die weit entfernt von „schön“ sind.
„Was tue ich, damit dieses Kind glücklich werden kann?“. Diese Frage haben wir uns in den ersten Wochen und Monaten Hunderte Male gestellt. In den ersten zwei Wochen nach Laras Transition saß ich jeden Abend allein im Büro und habe eine halbe Stunde vor mich hin geheult. Ich habe lange niemandem etwas davon erzählt. Weder meiner Frau, noch meinen engen Freunden. Aber es ging einfach nicht mehr anders.
Heute sind wir etwas entspannter. Ja, der Pfad aller Möglichkeiten um glücklich zu werden, ist schmaler geworden, als es vor zwei Jahren noch aussah. Aber Lara ist das alles egal. So lange sie Mädchen sein darf, nimmt sie alles andere hin. Wir anderen haben uns damit abgefunden und unseren Frieden damit gemacht. Vielleicht brechen mal wieder Probleme auf, dann ist es eben so.
Auch das werden wir irgendwie hin kriegen.
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