Unter pubertätsaufschiebenden Medikamenten (auch Pubertätsblocker oder Pubertätshemmer genannt) versteht man Medikamente, die die Pubertät von Jugendlichen hinauszögern. Es handelt sich dabei meistens um GnRH-Agonisten, also synthetisch hergestellte Hormone (GnRH = Gonadotropin-Releasing-Hormon = Gonadotropin-freisetzende Hormonagonisten).
Pubertätsblocker hemmen im Körper die Ausschüttung von Sexualhormonen, einschließlich Östrogenen und Testosteron, so dass sich die unerwünschte Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale deutlich verlangsamt bzw. unterdrückt. Jugendliche erhalten somit mehr 1-2 Jahre zusätzliche Zeit, um Sicherheit darüber zu erlangen bzw. zu erhöhen, ob körperliche Veränderungen im Rahmen ihres Prozesses wünschenswert und erforderlich sind, um sich in ihrem Körper wohl und zuhause zu fühlen. Eine Festigung dieses Prozesses scheint wünschenswert und notwendig, um das Risiko zu vermindern, dass dieser junge Mensch seine Entscheidung zu einem späteren Zeitpunkt bereut. Daher ist es wichtig, dass eine informierte Einwilligung des Jugendlichen vorliegt. Ihr sollte ein intensiver Reflexionsprozess vorausgegangen sein.
Beschließt der junge Mensch zu einem späteren Zeitpunkt auf körperliche Veränderungen durch medikamentöse Maßnahmen zu verzichten, kann die Gabe der GnRH-Analoga vollständig gestoppt werden.
Gründe für den Verzicht auf Medikamente können sein, dass die Person merkt, dass das geschlechtsbinäre Konzept nicht für sie passend ist und sie sich eher als abinär empfindet und daher keine Maßnahmen mehr wünscht, es kann aber auch sein, dass sie merkt, dass die fehlenden körperlichen Veränderungen (die während der Pubertät ja stattfinden sollten) für sie nicht passen. Bei manchen kann es damit einhergehen, dass sie wieder in die Geschlechtsrolle des ursprünglich zugeordneten Geschlechts wechseln.
Manche abinären Menschen möchten nur einen Teil körpermedizinischer Maßnahmen in Anspruch nehmen, z.B. um die Stimme anzusenken, damit sie nicht so hoch klingt und keine permanente Falschzuordnung als Frau (Misgendering) stattfindet.
Ärztliche Verordnung:
Pubertätsblocker werden von Endokrinolog_innen verordnet (siehe Kap.10.3).
Als Voraussetzung muss eine Diagnose der „Störung der Geschlechtsidentität“ oder „Geschlechtsinkongruenz im Kindes- und Jugendalter“ einer_s Kinder- und Jugendpsychotherapeut_in vorliegen.
Der Zugang zu Endokrinolog_innen ist oftmals wegen langer Wartezeiten erschwert, daher ist es für Eltern sinnvoll sich frühzeitig um Kontaktaufnahme zu kümmern. Lieber etwas zu früh, als nachher unter Druck zu geraten. Es ist wichtig, die endokrinologischen Untersuchungen vor Einsetzen der Pubertät zu starten, sofern sich Ihr Kind Ihnen ausreichend früh anvertraut.
Durch Blutuntersuchungen kann festgestellt werden, wann die Konzentration der Sexualhormone im Blut zunimmt, was auf den Beginn der Pubertät deutet. Dieser Zeitpunkt ist ideal für die Gabe der Pubertätsblocker, daher sind ab diesem Zeitpunkt engmaschige ärztliche Untersuchung hilfreich.
Wirkbereich:
Die ursprüngliche Anwendung von Pubertätsblockern erfolgt bei Kindern, deren Pubertät ungewöhnlich früh einsetzt (d.h. bei Kindern bis zum achten Lebensjahr), bei Kindern mit ideopathischem Kleinwuchs , aber auch bei Erwachsenen mit Endometriose oder Prostatakrebs. Der Einsatz bei trans Jugendlichen erfolgt „off-label“, war also bei seiner ursprünglichen Entwicklung nicht dafür vorgesehen, hat sich aber als wirkungsvoll erwiesen. Aufgrund des positiven Effektes, werden sie bei vorliegender Indikation eingesetzt.(
Das Off-Label-Use-Vorgehen betrifft fast alle Medikamente, die in der Kinder- und Jugendheilkunde eingesetzt werden, da die Durchführung von Studien in diesem Bereich extrem aufwendig, teuer und insbesondere aus ethischen Gründen nur in Ausnahmefällen zu vertreten ist)
Pubertätsblocker verhindern unter anderem die Entwicklung der typisch weiblichen sekundären Geschlechtsmerkmale (Brustentwicklung, Menstruation) sowie der typisch männlichen sekundären Geschlechtsmerkmale (Bartwuchs, Entwicklung des Adamsapfels, tiefe Stimme).
Pubertätsblocker verhindern nicht die kognitive Entwicklung der Pubertät.
Verabreichung:
Pubertätsblocker können in zwei Formen verabreicht werden: als Injektion oder als Implantat. Injektionen (in der Regel wird „Leuprorelin“ gespritzt) können monatlich, alle 3, 4 oder 6 Monate verabreicht werden. Bei Implantaten wird ein kleines Röhrchen (welches „Histrelin“ enthält) subkutan im Oberarm eingesetzt.
Die aktuelle deutsche Leitlinie schlägt das Verabreichen ab dem 16. Lebensjahr vor, womit sich jedoch die Sinnfrage stellt, denn in diesem Alter ist die Pubertät von Jugendlichen bereits in vollem Gange und oft bereits abgeschlossen.
Die Behandlungsrealität ist auch längst eine andere. Die Verabreichung von GnRH-Analoga werden in der Regel beim Erreichen des 2. Tanner-Stadiums gegeben. Bei trans Jungs entspricht das grob dem 9.-11. Lebensjahr, bei trans Mädchen grob dem 10.-12. Lebensjahr
Nebenwirkungen:
Es gibt sehr wenige (und kaum aussagekräftige) Studien zur Auswirkung von Pubertätsblockern. Tendenziell deuten die existierenden Studien darauf hin, dass die Nebenwirkungen im akzeptablen Rahmen zu bleiben scheinen. Allerdings sollte das Thema Unfruchtbarkeit angesprochen werden. Wenn Jungen niemals Menstruationszyklen durchlaufen haben oder Mädchen keine zeugungsfähigen Spermien entwickelt haben, werden sie bei nahtlosem Übergang zu einer geschlechtsspezifischen Hormonbehandlung dauerhaft unfruchtbar (siehe auch Kap.07, Sterilität).
Bei Einsatz der GnRH-Analoga kann in einzelnen Fällen die Knochenmineralisierung (s. auch Seite ) vermindert sein und bei trans Frauen kann in einigen Fällen die Vaginoplastik, aufgrund der Unterentwicklung des Penis und Hodens nicht optimal durchgeführt werden. Allerdings kann hierfür auch anderes Material verwendet werden, wie Gewebe aus dem Darm oder künstliches Material. Wie bei jeder anderen Entscheidung sollten Vor- und Nachteile im Vorfeld gut gegeneinander abgewogen werden.
Negative Auswirkungen auf die Entwicklung des Gehirns konnten bislang nicht nachgewiesen werden, selbst wenn Skeptiker_innen von Pubertätsblockern das wiederholt behaupten.
Auch ungünstige Auswirkungen auf die zu erwartende Körperendgröße sind bei Gaben von GnRH-Analoga nicht zu erwarten.
Vorteile:
Die wenigen existierenden Studien bescheinigen der Behandlung mit Pubertätsblockern,
keine wesentlichen körperlichen Schädigungen.
Meist steigert sich das psychische Wohlbefinden der jungen Menschen, die Lebensqualität nimmt zu, negative Auswirkungen auf familiäre Beziehungen werden abgemildert. Selbstverletzendes, aggressives oder autoaggressives Verhalten von Kindern kann gemindert werden, die Geschlechtsdysphorie lässt bei sehr vielen jungen Menschen unterschiedlich deutlich nach.
Als weiterer positiver Aspekt kann angeführt werden, dass die Notwendigkeit der psychologischen Betreuung bei Gabe von Pubertätsblockern wesentlich abnimmt.
Rechtliches:
In einigen europäischen Ländern ist die Vergabe von Pubertätsblockern nicht mehr oder nur eingeschränkt möglich. Seit es in diesen Ländern in den letzten Jahren einige Gerichtsurteile gab, die gegen die Vergabe von Pubertätsblockern stimmten, wonach die Verschreibung dieser Medikaments eingeschränkt wurden, sind auch in Deutschland einige Mediziner_innen und Psycholog_innen vorsichtiger bei deren Verschreibung bzw. Indikationsstellung geworden. Vor allem sorgte ein Urteil des Londoner High Court in Sache „Kiera Bell“ für Aufmerksamkeit. Es bleibt im Sinne der bedarfsgerechten medizinischen Betreuung junger Menschen zu hoffen, dass sich die Lage in den nächsten Jahren wieder entspannt.
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