Auch wenn es in der Psychologie schier unzählige Untersuchungen und Arbeiten rund um die Sexualität gibt, so gibt es doch nur sehr wenige, die sich mit der Entwicklung der geschlechtlichen Identität und schon gar nicht mit geschlechtlicher Selbstwahrnehmung auseinandersetzen.
Letztendlich ist das möglicherweise auf veraltete Definitionen von Geschlecht zurückzuführen, die wiederum aus veralteten Definitionen der Biologie und der Medizin übernommen wurden, ohne hinterfragt worden zu sein. Diese Definitionen reduzieren das „Geschlecht“ meist leider nur auf körperliche Geschlechtsmerkmale.
Das wiederum führte zu einer Kopplung bzw. Verwechslung von „Entwicklung der Sexualität“ mit „Entwicklung der Geschlechtsidentität“. Eine Folgeerscheinung davon ist beispielsweise die Annahme, dass trans Menschen eigentlich homosexuell wären, diese Neigung jedoch ablehnen. Diese Annahme lässt sich wissenschaftlich nicht halten. Bei trans Personen geht es nicht um die sexuelle Orientierung, sondern um die geschlechtliche Selbstwahrnehmung bzw. Geschlechtsidentität. Die sexuelle Orientierung (heterosexuell, homosexuell, bisexuell, asexuell) ist unabhängig von der geschlechtlichen Selbstwahrnehmung oder Geschlechtsidentität. Die Aussage: „Eine trans Person ist eigentlich homosexuell“ ist somit als pauschale Behauptung falsch. Eine trans Person kann homosexuell, bisexuell, heterosexuell sein oder ihre sexuelle Orientierung selbst anders beschreiben oder definieren.
Seit der Anerkennung von Homosexualität als normale, wenn auch seltener auftretende Form der sexuellen Orientierung als Heterosexualität, lässt sich diese Koppelung nicht mehr aufrecht erhalten, Transgeschlechtlichkeit wird zunehmend als eigene Erscheinungsform des Seins gesehen (unabhängig von Sexualität).
Betrachtet man allgemeine Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie zum Thema Identitätsentwicklung, scheint es, dass sich die meisten Kinder im Alter ab etwa zwei Jahren ihrer Geschlechtswahrnehmung deutlich bewusst sind. Manche Psycholog_innen, Psychiater_innen und Psychotherapeut_innen bezweifeln, dass eine Geschlechtsidentität bereits in so jungen Jahren möglich ist. Die Vielzahl von Kindern, die sichtbar werden, widersprechen derartigen Zweifeln.
Letztendlich spielt es gar keine Rolle, zu welchem Zeitpunkt genau sich die Geschlechtsidentität in sehr jungen Jahren entwickelt, denn:
Kinder haben schon sehr früh ein Gruppenzugehörigkeitsgefühl. Sie fühlen sich oftmals eindeutig zur Gruppe der Mädchen oder zur Gruppe der Jungen zugehörig, auch wenn sie sich nicht bewusst sind, welche Vorstellung von Geschlecht erwachsene Menschen haben. Auch Kinder, die sich beiden oder keiner Gruppe zugehörig fühlen, können dies bereits sehr früh zum Ausdruck bringen, wenn die Eltern dafür offen sind.
Wenn also ein vier Jahre altes Kind Aussagen über sich trifft (z.B. über Hunger oder Schmerzen), wird ihm in aller Regel geglaubt. Warum aber wird diesem Kind, das von sich sagt. „Ich bin kein Mädchen (wie ihr immer alle behauptet), sondern ein Junge!“ genau diese – und nur diese – Aussage nicht geglaubt? Es drängt sich der Verdacht auf, dass der Grund darin zu suchen ist, dass dieses Kind sich nicht konform zu den Überzeugungen der urteilenden Erwachsenen verhält.
In der begleitenden Psychotherapie, so steht es jetzt in den Leitlinien, soll nicht die Transidentität therapiert werden, sondern die Probleme die die Umwelt der Kinder mit ihrem trans Sein bereiten. Manche Kinder hadern mit ihrem trans Sein, andere sind mit sich im Reinen. Über die Gründe des Haderns lässt sich bisher nur spekulieren. Bei einigen gibt es viele Probleme mit der Anerkennung des empfundenen Geschlechts in der Familie oder dem Umfeld, bei anderen nicht.
Wegen dieser so unterschiedlichen Bedürfnisse lassen sich Therapien nur selten tatsächlich miteinander vergleichen. Was macht eigentlich eine „gute Therapie“ aus? Ergebnisse aus der Psychotherapieforschung haben gezeigt, dass eine gute, vertrauensvolle Beziehung zwischen der Psychotherapeut_in und Unterstützung suchendem Menschen nicht nur eine unabdingbare Voraussetzung für eine gute Zusammenarbeit sind, sondern auch einen entscheidenden Anteil am Therapieerfolg hat.
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass es sich bei der geschlechtlichen Selbstwahrnehmung nicht bloß um ein Gefühl handelt, sondern um ein verfassungsgerichtlich anerkanntes, von körperlichen Gegebenheiten unabhängiges Wissen um die eigene Geschlechtszugehörigkeit.
Was kann in der begleitenden Therapie getan werden?
Unsicherheiten im Umgang mit einem verunsicherten, nicht verstehenden Umfeld (z.B. Erwachsenenängste) können thematisiert und reduziert werden.
Möglichkeiten, wie mit Mobbing oder Ausgrenzungen umgegangen werden kann, können erarbeitet und ausprobiert werden. Das Coming-Out (siehe auch Kap.08.1) in der Schule, Familie oder anderen Stellen kann geplant werden, sofern es von dem betreffenden Kind erwünscht ist.
Wenn medikamentöse oder operative Schritte gewünscht/geplant werden, kann in der Therapie geklärt werden, welche Konsequenzen diese haben sollen und können. Die Frage nach der Planung des weiteren Lebens – nachdem alle vom trans Menschen als notwendig erachteten Schritte durchgeführt worden sind – kann und sollte Thema in der Therapie sein. Hierzu kann ein Austausch mit trans Personen, deren Weg bereits viele Jahre zurückliegt, aufschlussreich sein.
Es empfielt sich, alle Veränderungen auf dem beschrittenen Weg zu dokumentieren. Dies kann für die betreffenden Menschen, aber auch für ihre Eltern eine Hilfestellung sein, getroffene Entscheidungen ebenso nachzuvollziehen, wie auch die unterschiedlichen Situationen, in denen sie getroffen wurden. Zu einem späteren Zeitpunkt kann es sich um ein wirkungsvolles Instrument handeln, um mit getroffenen Entscheidungen gut leben zu können, weil sie positiv in die eigene Lebensbiographie integriert werden können. Dies vermag unter Umständen die Gefahr eines Bedauerns zu vermindern.
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