Sehr kurz gefasst, sollten Eltern und Erziehungsberechtigte:
a) ernst nehmen, was das Kind mitteilen möchte,
b) das Kind unterstützen,
c) die eigenen Unsicherheiten nicht auf das Kind abwälzen,
d) überlegen, welche Personenkreise sie (insbesondere in der Anfangszeit) einweihen wollen,
e) überlegen, ob sie Ärzt_innen und die Krankenkasse informieren möchten,
f) den Rollenwechsel in ein anderes (binäres oder abinäres) Geschlecht vorbereiten,
g) Kontakt zu (Selbst)Hilfeorganisationen aufnehmen und über die auch zu anderen Eltern, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden,
h) den DGTI-Ergänzungsausweis beantragen,
i) Kontakt zu Psycholog_innen aufnehmen,
j) überlegen, ob sie staatliche Hilfen für das Kind in Anspruch nehmen wollen.
Das Ganze nun ausführlicher:
a) „Ernst nehmen, was das Kind mitteilen möchte.“ muss wohl nicht weiter kommentiert werden.
b) Mit dem Zwiespalt zwischen geschlechtlichen Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung durch die Eltern und andere Personen – zu leben und klar zu kommen – ist eine Herausforderung, die das Kind (leider) im Wesentlichen alleine meistern muss. Den Eltern (im Allgemeinen cis Menschen) ist es naturgemäß nicht möglich, sich in diese Herausforderung wirklich hinein zu versetzen, so sehr sie das auch versuchen. Eltern, die ihr Kind über einen längeren Zeitraum beobachten und unterstützen, ist es möglich, bis zu einem gewissen Maße ein Verständnis für das Erleben ihres Kindes aufzubringen. Hierbei kann es sich um eine Annäherung an die geschlechtliche Selbstwahrnehmung ihres Kindes handeln. Zu 100% werden Eltern sich jedoch nicht in die Situation ihres Kindes hineinversetzen können.
Daher kann man als Erwachsene_r nur versuchen, das Kind so weit wie möglich vor eigenen Sorgen abzuschirmen und ihm jede mögliche Unterstützung geben. Das Kind ist bereits mit sich und mit seinen Eltern bzw. seiner Umgebung selber mehr als gefordert. Wenn es zusätzlich noch gegen Widerstände der Eltern ankämpfen muss, fehlt ihm die Kraft und Konzentration für seine Persönlichkeitsentwicklung und die Schule. Einen negativen Einfluss auf das Seelenleben bzw. die seelische Gesundheit kann zudem nicht ausgeschlossen werden.
c) Anfangs, kurz nachdem Kinder ihren Eltern ihre geschlechtliche Selbstwahrnehmung darlegen, haben Eltern oft das Gefühl, wie im Nebel orientierungslos herum zu irren. Unbewusst versuchen sie, aus ihren Kindern heraus zu bekommen, „was Sache ist“, und stellen ihrem Kind immer wieder Fragen zu Gefühlslagen, Geschlechtsempfinden und anderen Sachverhalten, die diese oftmals nicht beantworten können oder wollen.
Eltern (bzw. Erziehungsberechtigte) sollten unbedingt versuchen, sich zu bremsen. Fragen, in gleicher oder ähnlicher Form dreimal, fünfmal, zehnmal oder so oft zu stellen, bis es die Kinder nervt, ist sicherlich nicht hilfreich. Achten Sie auch auf Ihre Formulierung. Fragen Sie oder stellen Sie infrage?
Kinder können oder wollen die meisten und wichtigsten Fragen der Erwachsenen häufig nicht beantworten. Sie können aber meistens ziemlich gut zwischen den Zeilen lesen und nehmen unbewusst Ängste und Unsicherheiten, aber auch Ermutigungen der Erwachsenen wahr.
d) Irgendwann müssen sich Eltern und Erziehungsberechtigte der Frage stellen, welche Personen sie in diese (für sie) neue Situation einweihen möchten. Gar niemanden? Großeltern, Onkel, Tanten, enge Freund_innen oder gehen sie einfach offen damit um und erzählen jedem davon, sofern die Situation es erfordert.
Alles hat seine Vor- und Nachteile. Man kann nicht alle zukünftigen Situationen vorhersehen, daher sind Probleme vorprogrammiert, egal wie die Entscheidung ausfällt. Die Komplexität, andere Personen einzuweihen, fällt unter dem Begriff des „Coming-Out“, darauf gehen wir in Kap.08.1 ausführlich ein.
e) Sollen Ärzt_innen und Krankenkasse informiert werden? Arztpraxen können (auf Kulanz) den neuen Namen und das neue Geschlecht eintragen, Krankenkassen können (auf Kulanz) eine neue Versichertenkarte ausstellen, sie sind aber nicht dazu verpflichtet. (Siehe auch Kap. 09.4.)
f) Wechsel der Geschlechtsrolle: das Kind braucht möglicherweise neue Kleidung. Es wird seinen alten Vornamen vielleicht ablehnen(), also sind noch etliche andere neue Gegenstände notwendig (Versicherungskarte, Namensaufkleber,…). Wir gehen in Kap.06.6 noch ausführlich darauf ein.
g) Kontakt zu Selbsthilfeorganisationen aufzunehmen ist sicherlich hilfreich (das Internet hilft hier weiter).
Um das Thema „trans“ gibt es viele verschiedene Meinungen und Strömungen, die alle ihre eigenen, teils guten Argumente haben. Es wäre klug, auch die Argumente der Gegenseite zu lesen und dann möglichst weise abzuwägen. (Siehe auch Kapitel „Kritisierende Argumente“ oder suchen Sie weiterführende Hilfen.)
h) Der „DGTI-Ergänzungsausweis“ sollte beantragt werden (siehe auch Kap.09.1). Die Kosten (von derzeit ca. 20€) sind sehr gut angelegt. Der Ausweis verleiht der als passend empfundenen Geschlechtsrolle eine gewisse Legitimität und bürokratischen Ernst. Er schadet nicht und hilft oft.
i) Wenn es später einmal um VÄ/PÄ (siehe Kap.10.1) geht oder um die Gabe von Pubertätsblockern (Kap.10.2) und/oder Hormonen (Kap.10.3), usw. muss oft nachgewiesen werden, dass die betreffende Person bereits seit längerer Zeit in der Rolle des „anderen“ Geschlechts lebt.
Daher ist es sehr wichtig, dies irgendwo dokumentiert zu haben, z.B. durch eine psychologische Praxis oder von einem Zentrum, dass Erfahrung in Begleitung transgeschlechtlicher Kinder hat (z.B. eine Uni-Klinik). Einerseits kann es tatsächlich gut sein, dass man von hilfreichen Tipps oder Gesprächen profitiert, aber selbst wenn man das Gefühl hat, der Besuch würde persönlich nicht viel bringen, kann sich die Dokumentationen durch Psycholog_innen bzw. entsprechende Zentren zu einem späteren Zeitpunkt als sehr nützlich erweisen.
(Falls sich erweisen sollte, dass das Kind nicht dauerhaft in der neuen Geschlechtsrolle verbleibt und in seine ursprünglich zugeordnete Geschlechtsrolle zurückwechselt, wird der Fall geschlossen, ohne dass Kind oder Eltern einen Nachteil erleiden müssen.)
Leider müssen trans Personen wie auch ihre Angehörigen mit Mobbing / Bullying, Diskriminierung und anderen Leiden rechnen. Daher ist eine Kontaktaufnahme zu Psycholog_innen oder Psychotherapeuth_innen sinnvoll. Nicht nur zur Unterstützung der Kinder, sondern ausdrücklich auch zur Unterstützung der Eltern. Da die Wartezeiten bei psychologisch-psychiatrischen Einrichtungen lang sind, sollte eventuell schon frühzeitig Kontakt zu diesen aufgenommen werden.
Nächstes