Ist eine Person trans, sind viele Entscheidungen zu treffen. Diese können große Auswirkungen haben, welche teils weit in der Zukunft liegen, was die Planung sehr erschwert.
Kurz gesagt: niemand kann es sich leicht machen, sogar diejenigen Menschen nicht, die das von sich behaupten. Die Gedanken um die Entscheidungen, was richtig oder falsch sein könnte, kreisen und kreisen und kreisen.
Es gibt leider nicht die richtige oder die falsche Entscheidung, es wäre schön, wenn es so einfach wäre.
Für jede betroffene Person ist die Entscheidung anders, es hängt vom Alter der Person ab, von der Vorgeschichte, von den Wünschen und eigenen Vorstellungen wohin die „Reise“ gehen soll und von vielem mehr.
Aber egal wie und wann man entscheidet, sollte man dieses bewusst tun. Erfahrungsgemäß verringert es die Gefahr, hinterher etwas zu bereuen.
Wir können und werden Ihnen in diesem Kapitel nicht sagen, was Sie tun oder lassen sollen, sondern wollen Ihnen Möglichkeiten und Gefahren aufzeigen, sowie Situationen in welchen Sie aufpassen bzw. sich informieren sollten.
Phase der Kindheit:
Die erste Entscheidung, die Sie treffen müssen, ist die, ob Sie Ihrem Kind die Transition überhaupt zugestehen. Wir gehen einfach mal davon aus, dass Sie die Transition stattfinden lassen, anderenfalls würde sich der Rest des Kapitels für Sie erübrigen und wir würden Sie gerne zu Kap. 08.2.1 verweisen.
Wenn eine Person noch in der Kindheit seine Geschlechtsrolle wechselt (also noch vor der Vorpubertät), ist das recht risikoarm.
Die Transition (also der Prozess bei welchem das Kind augenscheinlich von dem einen ins andere Geschlecht wechselt) ist – zugegebenermaßen – für alle Beteiligten ziemlich stressbehaftet. Der Gedanke, dass dieses „umsonst“ sein könnte, weil das Kind nach 2-3 Monaten oder vergleichbar kurzer Zeit wieder ins ursprünglich zugeordnete Geschlecht zurück wechseln könnte, ist nicht gerade angenehm. In diesem Fall hätten Sie in der Tat viel Aufwand betrieben, aber es ist mit Sicherheit nicht die einzige Phase im Leben Ihres Kindes, die nach einer gewissen Zeit wieder abklingt.
Abgesehen vom Aufwand wäre bei der Retransition (dem Zurückwechseln in das bei der Geburt zugeordnete Geschlecht) nicht viel verloren. Keine Institution wird Ihnen Steine in den Weg legen, wenn die „alte Ordnung“ wieder hergestellt wird. Es wird ein bisschen Gerede geben und Sie werden sich möglicherweise ein paar dumme Sprüche anhören müssen. Es gibt Schlimmeres.
Phase der Vorpubertät:
Auch hier gehen wir davon aus, dass Sie die Transition überhaupt zulassen, da sich anderenfalls der Rest des Kapitels für Sie erübrigt und Sie eher zu Kap. 08.2.1 auf Seite springen sollten.
Auch auf den Fall, dass Ihr Kind noch vor der Pubertät in sein ursprüngliches Geschlecht zurückwechselt, gehen wir nicht ein. Er ist risikoarm und wir haben ihr bereits im letzten Absatz unter „Phase der Kindheit“ beschrieben.
In absehbarer Zeit setzt bei Ihrem Kind die Pubertät ein, da müssen Sie über die Gabe von Pubertätsblockern entscheiden.
Das Einzige, was Sie also in dieser Phase falsch machen können, ist, dass Sie zum Zeitpunkt, an dem die Pubertät bei Ihrem Kind einsetzt, kein_e Endokrinolog_in zur Hand haben, die den Start der Pubertät genau ankündigen und Sie beraten können.
Phase der Pubertät:
Wenn der/die Endokrinolog_in feststellt, dass die Pubertät bei Ihrem Kind einsetzt, müssen Sie recht zügig entscheiden, ob Ihr Kind Pubertätsblocker bekommen soll oder nicht. Entgegen mancher Gerüchte haben Pubertätsblocker keine bekannten Nebenwirkungen, die den Nutzen überragen. Potentiell handelt es sich um Medikamente, über deren Wirkungen und Nebenwirkungen Sie sich im Vorfeld gut informieren können. (Wir sind in Kap.06.4 ausführlich darauf eingegangen.)
Wenn Sie keine Pubertätsblocker geben lassen, entwickelt sich der Körper eines trans Mädchens zu einem maskulinen Erscheinungsbild hin, der eines trans Jungens zu einem femininen Erscheinungsbild hin.
Sollte das der ausdrückliche Wunsch Ihres Kindes sein (was zwar vorkommt, jedoch sehr selten), ist es wohl die richtige Entscheidung.
In der Regel ist eine solche körperliche Entwicklung von den Kindern nicht gewünscht, sondern kommt einer Katastrophe gleich. Es besteht die Gefahr, dass Ihr Kind sehr, sehr unglücklich wird und Sie auch die Bindung zu Ihrem Kind verlieren.
Wenn Sie Ihrem Kind Pubertätsblocker geben lassen, zögert das die körperliche Pubertät hinaus und Sie und Ihr Kind gewinnen ein bis zwei Jahre Zeit, in welcher Ihr Kind mehr Sicherheit gewinnen kann, in welche Richtung es sich in geschlechtlicher Hinsicht entwickeln möchte.
Ein Teil der Jugendlichen merken tatsächlich in der Phase der Blockergabe ob die derzeitig eingeschlagene Richtung passt oder eben nicht.
Werden die Pubertätsblocker wieder abgesetzt, so entwickelt sich der Körper des Kindes weiter in die genetisch vorgegebene Richtung.
So gesehen, kann man durch die Gabe von Pubertätsblockern nicht viel falsch machen, sie halten die körperliche Entwicklung nur an, führen aber keine Änderung herbei.
Einen irreversiblen Effekt haben Pubertätsblocker jedoch für trans Jungs, wenn unmittelbar danach bzw. überlappend Testosteron verabreicht wird:
Bekommen trans Jungs Pubertätsblocker und dann Testosteron vor der ersten Regelblutung werden sie steril, eine spätere Schwangerschaft ist also nicht mehr möglich. Erhalten sie die Blocker und das Testosteron erst nach ein bis zwei Regelblutungen, können Sie später schwanger werden. Das ist ein unumkehrbarer Prozess mit wirklich entscheidenden Folgen. Daher ist es äußerst wichtig, dass Jugendliche diese Entscheidung wohlbedacht angehen.
Eine Periode abzuwarten, um die Chance auf eine spätere Schwangerschaft nicht zu vergeben, ist also verführerisch, die Auswirkungen von Regelblutung und Brustwachstum können für betroffene Jugendliche aber katastrophal werden. Zwischen der ersten und zweiten Regelblutung kann der Tod liegen.
Geschlechtsangleichende Hormone erwirken eine Veränderung des jugendlichen Körpers. In den ersten Tagen der Hormongabe ist alles noch reversibel. Dann beginnen die Veränderungen.
Bei trans Jungen wird die Stimme tiefer, der Kehlkopf wird sichtbar, es setzt ganz allmählich der Bartwuchs ein und all die anderen Veränderung, die sich bei männlichen Jugendlichen zeigen. (Hat ein trans Junge keine Pubertätsblocker erhalten, sondern direkt Hormone, ist eine spätere Schwangerschaft noch möglich.)
Trans Mädchen bekommen weichere Gesichtszüge, Brustwachstum setzt ein und alle anderen Veränderungen, die sich bei weiblichen Jugendlichen üblicherweise zeigen.
In seltenen Fällen kann es vorkommen, dass Jugendliche während der Hormongabe feststellen, dass die Veränderungen des Körpers doch nicht in gewünschter Weise in das Weltbild der Jugendlichen passen. Das ist problematisch. Nicht alle Veränderungen kann man rückgängig machen.
Glücklicherweise geht es meistens gut, der allergrößte Anteil der Jugendlichen wird von den allmählich einsetzenden Veränderungen in Euphorie versetzt, sie sind mit dem Ergebnis absolut zufrieden.
Phase des Erwachsenendaseins:
Die Gabe von Hormonen ist auch im Erwachsenenalter üblich. Setzt man diese ab, entwickelt sich der Körper ungefähr auf das Aussehen nach der Pubertät zurück (tiefe Stimme, Haarverlust, Bartwuchs bei trans Männern entwickeln sich nicht zurück).
Den letzten großen Baustein der angleichenden Maßnahmen bilden die geschlechtsangleichenden Operationen. Diese sollten und werden üblicherweise erst nach der Pubertät durchgeführt, meistens sogar erst bei Erreichen der Volljährigkeit.
Eine Operation sollte wohl durchdacht sein, denn körperliches Gewebe, das einmal abgetrennt wurde, ist natürlich für immer verloren. Diese Operationen können nur unter großem Aufwand und auch nur teilweise rückgängig gemacht werden.
Wurde z.B. eine Brust amputiert, liefert ein späterer Brustaufbau niemals wieder das ursprüngliche Ergebnis. Das Gleiche gilt natürlich für Operationen der Genitalien und anderer Geschlechtsmerkmale. Wurden Gebärmutter und Keimdrüsen entfernt, so ist das endgültig. Nach Entfernung der Keimdrüsen müssen lebenslänglich Geschlechtshormone extern zugeführt werden.
Daher ist eine ausführliche Aufklärung vorab dringend notwendig.
Sollte sich also eine trans Person einer geschlechtsangleichenden Operation unterziehen, sollte sie sich sehr sicher sein, dass sie das will und sich der Folgen und Konsequenzen vollständig bewusst sein, um eine informierte Einwilligung geben zu können.
Zusammenfassend:
Es gibt viele Entscheidungen, die zu treffen sind, und es sind allesamt schwierige Entscheidungen.
Sich vor Entscheidungen drücken zu wollen, ist praktisch unmöglich, da das insofern Schaden für das betroffene Kind nach sich ziehen kann, als die Natur durch die hormonellen Veränderungen Entscheidungen trifft, die für die Kinder möglicherweise katastrophal sind.
Man muss sich vor Augen halten:
Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung.
Das Risiko einer Fehlentscheidung ist tatsächlich gegeben, aber das Risiko durch „Nichts Tun“ ist höher.
Die Sorgen vor einer Fehlentscheidung kann man verringern, wenn man ein paar Wahrscheinlichkeiten betrachtet.
Von allen Kindern, die die Transition durchmachen, wechseln ca. 1-2% später wieder ihr bei der Geburt zugeordnetes Geschlecht (führen also die Retransition durch), dementsprechend bleiben ca. 98-99% übrig, die nicht zurückwechseln. Das bedeutet, wenn Sie Ihrem Kind nicht gestatten, die Transition durchzuführen, handeln Sie nur mit 1%-2% richtig, aber mit 98%-99% falsch!
Es wird geschätzt, dass ungefähr 0,3%–3% der Personen, die sich einer geschlechtsangleichende Operation unterziehen, diese anschließend bereuen. Allerdings gibt es auch Schätzungen, wonach 23% der Personen, die sich einer Herztransplantation unterziehen, diese anschließend bereuen.
Wie können Fehler also minimiert werden?
Es braucht Zeit, die Bedürfnisse anderer zu erkennen. Geben Sie sich und Ihrem Kind also ein paar Wochen Zeit festzustellen, ob es wirklich trans ist, oder ob es nur eine Phase durchmacht. Kinder merken durchaus schnell, ob sich ihre neue soziale Rolle im Leben passend anfühlt oder nicht.
Eltern versuchen in der Anfangszeit die Situation einzuschätzen, indem sie die Kinder häufig fragen, ob diese in das ursprüngliche Geschlecht zurückwechseln wollen. Für die betroffenen Kinder wird das irgendwann sehr lästig, es kann einen Rückzug bewirken.
Für Kinder kann das Angebot, in die Rolle des zugeordneten Geschlechts zurück zu wechseln, teilweise auch ziemlich schräg wirken. Es wirkt auf sie vergleichbar, als wenn Sie z.B. dem cis Geschwisterkind anbieten würden, es könne ja die Geschlechtsrolle wechseln. Dieses Kind würde Sie möglicherweise verständnislos ansehen. Es besteht die Gefahr, dass die (dem trans Kind) häufig wiederholte Frage zu Vertrauensverlust führt. Dieses Risiko sollten Sie als Eltern kennen. Versuchen Sie offen zu sein und das Zurückwechseln nicht zu häufig anzubieten (auch wenn Sie dieses durchaus still in Ihrem Inneren hoffen dürfen). Warten Sie die Zeichen des Kindes ab, in der Anfangszeit gibt es manchmal Signale in beide Richtungen.
Sie werden es aber sicherlich merken, wenn die Entwicklung eindeutig wird.
Wenn Sie ihrem Kind zuhören, wird das Kind auch Ihnen zuhören.
Überhaupt ist das gegenseitige Vertrauen in dieser Zeit enorm wichtig, es passiert leider allzu oft, dass die Bindung zwischen Kind und Eltern leidet.
Eltern versuchen oft teils bewusst, teils unbewusst, ihre Kinder in eine „weniger problembehaftete“ Richtung zu lenken, was bei Kindern einen großen Druck aufbaut, schließlich wollen sie den Anforderungen der Eltern genügen.
Wenn Eltern die Kinder (selbst mit subtilem Druck) daran hindern, einen Wechsel der Geschlechterrolle durchzuführen, kann es sein, dass die Kinder im Jugendalter das erst recht nachholen.
Eltern sollten dem Kind den Rücken freihalten und es beraten. Eltern müssen aber nicht entscheiden, welche geschlechtliche bzw. soziale Rolle das Kind einnehmen muss. So bitter das zwar auf der einen Seite sein mag, kann man (als Eltern) andererseits doch froh sein, dieses nicht selber entscheiden zu müssen.
Gehen wir einmal davon aus, dass Ihr Kind eine Transition durchführt und diese zu einem späteren Zeitpunkt wieder rückgängig macht, also wieder in sein ursprünglich zugeordnetes Geschlecht zurückwechselt. (Hier werden häufig die Begriffe Detransition oder Retransition verwendet, auch wenn sich dies am ehesten auf die soziale Rolle beschränkt.)
Viele dieser Kinder berichten, dass diese Phase des Geschlechterrollenwechsels (einfach gesagt: des trans Seins) ein wichtiger Teil ihrer Lebensbiografie sei.
„Ich habe das (als Kind) zu diesem Zeitpunkt einfach gebraucht.“ „Anders hätte ich nicht weiterleben können.“ Diese Kinder können ganz anders mit den Konsequenzen umgehen. Für Kinder, die zu einem späteren Zeitpunkt zu einem anderen Ergebnis kommen, kann eine mögliche Aufgabe der Psychotherapie sein, diese Entscheidung positiv in ihr Leben integrieren.
Es stellt sich an dieser Stelle auch die Frage, ob es überhaupt eine Retransition gibt oder ob es sich um eine zweite Transition handelt. Ein Mensch kann schließlich niemals wieder in die gleiche alte Rolle hineinwechseln, die er früher einmal inne hatte. Die Erfahrungen, die man in dieser Zeit sammelt, kann man nicht mehr auslöschen.
Für Leser mit etwas masochistischer Veranlagung haben wir ein Diagramm mit möglichen falschen und richtigen Entscheidungen vorbereitet:
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